Rückblick auf das 27. Philosophicum Lech und Bekanntgabe des Jahresthemas 2025  

Zwei Premieren, brandaktuelle Debatten und eine vielschichtige Philosophie der Störung prägten das 27. Philosophicum Lech

Gleich zwei Premieren feierte das 27. Philosophicum Lech, das vom 17. bis 22. September 2024 zum anregenden gegenwartsbezogenen Gedankenaustausch nach Lech am Arlberg geladen hatte. Erstmals fand die internationale Tagung in den Lechwelten, dem im Frühling eröffneten Kultur- und Kongresshaus statt. Zudem gab die neue Intendanz ihren Einstand – bestehend aus der bekannten Schweizer Philosophin Barbara Bleisch und dem gleichermaßen renommierten bisherigen wissenschaftlichen Leiter Konrad Paul Liessmann. Die Themenwahl unter dem Titel „Sand im Getriebe. Eine Philosophie der Störung“ erwies sich als hochaktuelle, multiperspektivische Erörterung brisanter Problemstelllungen unserer Zeit. Für erkenntnisreiche Vertiefung in die breit aufgefächerte Thematik sorgten namhafte Vortragende aus dem gesamten deutschsprachigen Raum. Auch die Philosophicum Dialoge zu den gravierendsten globalen Entwicklungen am Dienstag, der philosophisch-literarische Vorabend am Mittwoch oder das der offiziellen Eröffnung vorausgehende Impulsforum am Donnerstag fanden beim Publikum großen Anklang. Ein Besucherrekord bei der feierliche Verleihung des Tractatus am Freitag war ein weiterer erfreulicher Aspekt. So zog Ludwig Muxel, Obmann des Vereins Philosophicum Lech, eine zufriedene Bilanz und lud zur Teilnahme im nächsten Jahr mit einer ebenso spannenden Themenstellung ein.

 

Auf Anregung des Schriftstellers Michael Köhlmeier 1997 aus der Taufe gehoben, entwickelte sich das Philosophicum Lech innerhalb weniger Jahre zu einer der bedeutendsten transdisziplinären philosophisch-kulturwissenschaftlichen Tagungen im deutschsprachigen Raum. Wurden im ersten Jahr ca. 100 Besucherinnen und Besucher gezählt, finden sich längst schon mehr als 600 Interessierte alljährlich zur konzentrierten intellektuellen Auseinandersetzung in Lech am Arlberg ein. Bestärkt durch den starken Zuspruch, wurde das Programm insbesondere in den vergangenen Jahren ständig erweitert und erstreckt sich mittlerweile über sechs Tage. Aufgrund der dadurch erforderlichen organisatorischen Umstrukturierung wurde eine Intendanz eingerichtet, die heuer ihre Premiere beging. Die erste gemeinsame Leitung und  Programmgestaltung von der Schweizer Philosophin, Journalistin und Autorin Barbara Bleisch, bekannt unter anderem als Moderatorin der Sternstunde Philosophie, und dem langjährigen wissenschaftlichen Leiter Konrad Paul Liessmann fand großen Anklang bei den zahlreichen Teilnehmer:innen aus nah und fern. Dasselbe gilt für die Lechwelten als neuer Veranstaltungsort. Eingebettet in den historischen Ortskern, präsentiert sich das multifunktionale Kultur- und Kongresshaus in jeder Hinsicht höchst ansprechend und bildet den idealen Rahmen für eine Tagung dieser Größe. Anhand der Rückmeldungen der heurigen Teilnehmer:innen, wie durch eine Online-Befragung, soll eine weitere Optimierung hinsichtlich jeglichen Details folgen. Ob im großzügigen Foyer mit Cafeteria oder auf der Dachterrasse mit herrlichem Blick auf die umliegende Bergwelt, es entsponnen sich allerorts angeregte Diskussionen zu den fesselnden Ausführungen der Vortragenden aus Philosophie, Sozial- und Kulturwissenschaften sowie benachbarten Disziplinen – oder auch im Anschluss an die heißen Debatten im Rahmenprogramm. So bot das 27. Philosophicum Lech vom 17. bis 22. September reichlich Gelegenheit, sich mit aktuellsten Entwicklungen wie auch grundsätzlichen gesellschaftspolitischen sowie philosophischen Fragen auseinanderzusetzen. Unter dem Titel „Sand im Getriebe. Eine Philosophie der Störung“ eröffnete sich ein überraschend breites thematisches Spektrum. Das Phänomen der Störung wurde aus sozialer, politischer, technologischer, ästhetischer, körperlicher und psychischer sowie nicht zuletzt philosophisch ideengeschichtlicher und selbstreflexiver Perspektive beleuchtet. Zudem fanden sich auch im Rahmenprogramm brisante Debatten.  

Philosophicum Dialoge – profunde Erörterung aktuellster Entwicklungen

Am Dienstagnachmittag, den 17. September luden die Philosophicum Dialoge bereits zum fünften Mal zur fachkundigen Analyse und offenen Debatte brandheißer Themen. Beim I. Philosophicum Dialog um 15.00 Uhr zur Frage „Wie ist die Lage?“ führten die österreichische Philosophin und Theologin Claudia Paganini, Professorin für Medienethik an der Hochschule für Philosophie in München, und der deutsche Historiker Andreas Rödder, Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, ein durchaus auch kontroverses Gespräch. Moderiert von Martin Haidinger, Redaktionsleiter der Ö1-Wissenschaftssendereihe Salzburger Nachtstudio, wurde zunächst über die zunehmende Polarisierung beim Thema Klimawandel diskutiert. Dabei kam der Einfluss medialer Berichterstattung wie durch das vorwiegend negative Framing, so Paganini, oder auch das Pro und Kontra von Klimaprotesten zur Sprache. Ein weiterer Schwerpunkt war der neue Ost-West-Konflikt, den Rödder statt der oft aufs Tapet gebrachten multipolaren Weltordnung sieht, wobei „der globale revisionistische Osten die liberale westliche Ordnung infrage stellt“. Das Zwiegespräch entspann sich im Weiteren von der These, dass große Medienumbrüche stets zu einer umfassenden gesellschaftlichen Krise geführt hätten, bis zur unterschiedlichen Auffassung einer idealen bürgerlichen Gesellschaft. Ausschnitte der Diskussion sind am 30. September 2024 um 16.05 Uhr auf Ö1 in der Sendung Science Arena zu hören.

Der II. Philosophicum Dialog um 17.00 Uhr unter dem Titel „Was ist zu tun?“ wurde von der deutschen Rechts- und Politikwissenschaftlerin Sabine Müller-Mall, Professorin für Rechts- und Verfassungstheorie mit interdisziplinären Bezügen an der Philosophischen Fakultät Dresden, und dem schweizerisch-deutschen Schriftsteller und Essayisten Jonas Lüscher geführt. Unter Moderation der Schweizer Philosophin, Kulturjournalistin und Publizistin Catherine Newmark, standen der um sich greifende Populismus sowie der digitale Wandel als die Demokratie bedrohende Entwicklungen im Zentrum der Debatte. Den Ausgangspunkt bildete die Frage, wie der bzw. die Einzelne ins Handeln kommt, um einen Beitrag zur Erhaltung der Demokratie zu leisten. Während Lüscher die kritische Selbstreflexion bereits als eine Art des Handelns charakterisierte und sie als fundamentale Voraussetzung für eine bewusste politische Willensbildung hervorstrich, argumentiere Müller-Mall, dass ein Handeln erst durch die Äußerung von Gedanken vorliegt. Im Weiteren wurden die Strategien von Rechtspopulisten ebenso thematisiert wie jene der großen Tech-Konzerne, mit denen sich Lüscher über Jahre intensiv auseinandergesetzt hat. Es ging um Chancen und Gefahren der Digitalisierung, vom Einfluss von Algorithmen auf unsere Denkmuster bis zum eingeengten Spielraum für kreative, abweichende Entscheidungen.

Philosophisch-literarischer Vorabend – kreatives Einstimmen aufs Jahresthema   

In bewährter Manier boten der Schriftsteller und Mitbegründer des Philosophicum Lech Michael Köhlmeierund der Co-Intendant Konrad Paul Liessmann eine ebenso unterhaltsame wie inspirierende Einführung ins Jahresthema. Der philosophisch-literarische Vorabend am Mittwoch, den 20. September stand diesmal unter dem Titel „Es knistert im Gebälk der Gesellschaft“. Das reizvolle Wechselspiel zwischen atmosphärischer Erzählung und philosophischer Ad-hoc-Interpretation nahm seinen Anfang im biblischen Schöpfungsmythos und dessen apokrypher Vorgeschichte, wobei der Sündenfall von Liessmann als der paradigmatische Störfall schlechthin charakterisiert wurde. Es folgte die Wiener Sage vom „lieben Augustin“, der Köhlmeier durch gewiefte Variation einen zusätzlichen Twist hinsichtlich Todesfurcht und deren Überwindung durch die heitere Gelassenheit der Kunst gab. Abschließend erzählte er die bitterböse Geschichte einer Magd, die durch vorgetäuschte Melancholie das Mitgefühl einer Bauernfamilie weckt und sie voll Schadenfreude ins Verderben treibt. Der gnadenlose Missbrauch des Willen zum Guten störe unsere Vorstellung von einem hilfsbedürftigen Menschen und lade zum Grübeln über Gefühle ein, meinte Liessmann.

Philosophieren am Berg sowie Philosophieren im Kunsthaus Bregenz

Fixpunkte im abwechslungsreichen Rahmenprogramm der Tagung sind mittlerweile auch die beiden Veranstaltungen am Donnerstagvormittag, die zum stimulierenden Gedankenaustausch an besonderem Ort einladen. Bei Philosophieren am Berg im Panoramarestaurant Rüfikopf auf 2.350 m Seehöhe, organisiert in Kooperation mit dem Philosophie Magazin, führte dessen Chefredakteurin, die deutsche Philosophin, Journalistin und Autorin Svenja Flaßpöhler ein Gespräch mit Dieter Thomä, dessen Referat am Freitag die heurige Vortragsreihe eröffnete. Als Alternative bot sich das Philosophieren im Kunsthaus Bregenz, wo dessen Direktor Thomas D. Trummer in Diskurs mit Elisabeth Lechner, einer weiteren Referentin des diesjährigen Symposiums, trat und die Teilnehmer:innen anschließend durch die Ausstellung von Anne Imhof, einer der bedeutendsten Kunstschaffenden der Gegenwart begleitete. 

Impulsforum – offene Podiumsdiskussion unter prominenter Beteiligung  

Am Donnerstag, den 21. September um 15 Uhr ging der offiziellen Eröffnung wieder das Impulsforumvoraus, das sich heuer der Frage stellte: „Konsensstörung. Sind wir uns alle zu einig?“ Moderiert wurde die Podiumsdiskussion von Karl Gaulhofer, stv. Ressortleiter im Feuilleton der Tageszeitung Die Presse, der einleitend auf das Wertvolle von Störungen im Sinne von Anstößen zu einem positiven gesellschaftlichen Fortschritt hinwies. Es debattierten der ehemalige österreichische Skispringer, langjährige ÖSV-Sportdirekter und nunmehrige Unternehmer Anton (Toni) Innauer, der u. a. für Die Zeit und Welt am Sonntag tätige deutsche Kolumnist sowie Publizist Harald Martenstein, der österreichische Journalist und Autor Robert Misik sowie die deutsche Psychologiestudentin und als Klima-Aktivistin der Letzten Generation insbesondere in Österreich bekannte Anja Windl. Während Misik die Ausgangsfrage verneinte und dabei u. a. auf die Pro-und-Kontra-Settings in den Talkshows als Teil der Routine hinwies, sah Martenstein Konflikte in einer freien Gesellschaft zwar als Normalfall, konnte jedoch dem Eindruck einer Konfliktvermeidung mit Verweis auf die sozialen Blasen einiges abgewinnen. Anschließend wurde das Thema Klimawandel in den Fokus genommen. Angesprochen von Gaulhofer, ob der Protest ihrer Bewegung im Vergleich zu der eher auf Konsens ausgerichteten von Fridays for Future nicht gescheitert sei, betonte Anja Windl, dass Beliebtheit nie die Zielsetzung gewesen und dass angesichts des von ihr in drastischen Worten geschilderten drohenden Kollaps der Zivilisation der Zeitpunkt für zivilen Ungehorsam gegeben sei. Innauer zeigte volles Verständnis für die Klimaproteste und sprach von der Notwendigkeit, ein stärkeres Sensorium für die Natur und damit auch die Dringlichkeit von Verhaltensänderungen zu entwickeln, wobei der Bereich des Sports diesbezüglich eine Inspirationsquelle sein könnte. Angestoßen durch einen Hinweis aus dem Publikum, dass Anja Windl bislang weniger zu Wort gekommen sei als die anderen Diskutanten, wurde die Debatte gegen Ende hin durch weitere Spontanmeldungen der Zuhörerschaft emotional. In ihrer Stellungnahme unterstrich die Klimaaktivistin abermals ihre Betroffenheit, dass so weitergemacht werde wie bisher und rief das Publikum zu Aktivismus auf. Nach einem Anwurf aus diesem heraus verließ sie sichtlich gekränkt die Bühne, was Bedauern auslöste. Innauer, den Gaulhofer danach um ein Schlusswort bat, wiederholte seinen Appell zu klugen Selbstbeschränkungsmaßnahmen.

Feierliche Eröffnung des 27. Philosophicum Lech und Einleitungsreferat  

Die offizielle, feierliche Eröffnung des 27. Philosophicum Lech erfolgte wie traditionell um 17 Uhr. In ihren Begrüßungsworten hoben sowohl Gerhard Lucian, Bürgermeister von Lech am Arlberg, als auch Ludwig Muxel, Obmann des Vereins Philosophicum Lech, die beiden Neuerungen hervor und zeigten sich angesichts des vollbesetzten großen Saals der Lechwelten auch über das große Publikumsinteresse erfreut. Beide richteten einen besonderen Dank u. a. an die neue Intendanz, das Organisationsteam sowie alle Unterstützer des Philosophicum Lech, insbesondere an die Sponsoren. In der anschließenden Festrede betonte die Vorarlberger Landesstatthalterin Barbara Schöbi-Fink: „Das Philosophicum Lech wirkt über die Grenzen hinaus: räumlich, indem die Tagung Vortragende und Gäste aus Österreich, Schweiz und Deutschland zusammenbringt, inhaltlich, da sie als transdisziplinäre Tagung im deutschsprachigen Raum die Grenzen einzelner Fachrichtungen überwindet und verschwimmen lässt.“ Das große Publikumsinteresse und die beachtliche mediale Rezeption würden den Erfolg der Tagung bestätigen. In der zweiten Festrede kam der österreichische Finanzminister und designierte EU-Kommissar Magnus Brunner auf notwendige Handlungsmaximen für die heimische Politik und die EU zu sprechen. Es gehe nicht um ein Gegeneinander, „sondern ein Miteinander zum Wohle aller“. Abgerundet wurde die Eröffnung vom Einleitungsreferat zum Jahresthema, das von Barbara Bleisch gehalten wurde. „Beginnen wir erst, alles eliminieren zu wollen, was Anstoß erregen könnte, ist es mit unserer Freiheit schnell dahin“, verwies die Philosophin im Weiteren darauf, dass wir dringend „des freien und exzentrischen Denkens“ benötigten. Müsse doch jede Ordnung Störungen ertragen, weil sie es sonst verpasse, sich beständig zu erneuern und zu verbessern. Allerdings sollte in letzter Konsequenz „jeder Störenfried, will er für die Freiheit antreten, bereit sein, sich selbst auch wieder stören zu lassen“. Abschließend strich Bleisch heraus, dass der Respekt vor dem Gegenüber wohl die sicherste Garantin dafür ist, dass die Aufgestörten sich von den fremd anmutenden Ideen nicht gestört, sondern angeregt fühlen und zitierte Max Frisch: „Man sollte dem anderen die Wahrheit wie einen Mantel hinhalten, damit er hineinschlüpfen kann, und sie ihm nicht wie einen nassen Lappen um die Ohren schlagen.“

Zehn Vorträge zum Phänomen der Störung aus unterschiedlichster Perspektive

Am Freitagvormittag, 20. September standen Störenfriede und Wissensskeptiker im Zentrum der philosophischen Betrachtungen. Um 09.30 Uhr referierte Dieter Thomä, emeritierter Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen, zur Frage „Störenfriede – Dunkelmänner oder Lichtgestalten?“. Sein vielfach beachtetes Buch Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds (2016) war mit eine Inspiration für die diesjährige Themenwahl und in den weiteren Vorträgen häufig auch ein Referenzpunkt. Thomä stellte seine Typologie von vier verschiedenen Störenfrieden vor: den egozentrischen, der den eigenen Nutzen zu maximieren trachtet; den  exzentrischen, der sich in der Suche nach sich selbst an den Verhältnissen reibt; den nomozentrischen – abgeleitet vom griechischen nomos für Gesetz – als klassischer Fall des politischen Regelbrechers und viertens den massiven Störenfried, der im Bedürfnis der totalen Zugehörigkeit zu einer ungestörten Ordnung das Potenzial zur Zerstörung hat und im Populismus oder auch Fundamentalismus seine Heimat findet. „In dem Maße, in dem unser Gesellschaft sich in eine von Echokammern und Filterblasen verwandelt, wird die alte Logik der produktiven Störung zerstört“, gab der Philosoph seiner Besorgnis über aktuelle Entwicklungen Ausdruck. In Analogie zum Begriff Schwellenangst plädierte er stattdessen für Schwellenlust. Denn die Schwelle ist im Unterschied zur Grenze niedrig und damit überschreitbar. Sie sei der ideale Ort für den Reibungsprozess zwischen Ordnung und Störung, an dem ein komplexer Aushandlungsprozess stattfinden kann.

Um 10.15 Uhr folgte der Vortrag von Geert Keil, Professor für Philosophische Anthropologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, der unter dem Titel „Störfall Skeptizismus: Begrüßen, bekämpfen oder ignorieren?“ eingehend darlegte, warum die dritte Option zu empfehlen ist. Der philosophische Skeptiker in erkenntnistheoretischem Sinne, so erklärte er, ist der Auffassung, Menschen als fehlbare Wesen könnten niemals sicher ausschließen, dass kein verborgener Irrtum oder keine Täuschung vorliegt, weshalb sie kein Wissen besitzen können. Dem Skeptiker zufolge müsste man nicht nur gewöhnliche Irrtümer ausschließen können, um etwas zu wissen, sondern sogar die Möglichkeit eines allmächtigen Täuschergotts im Sinne von Descartes. Damit legt der Skeptiker einen unvernünftigen Begriff des Wissens zugrunde, argumentierte Keil, „nämlich einen Wissensbegriff, der bei näherem Hinsehen etwas begrifflich Unmögliches fordert: das Entdecken von Täuschungen, die über ihre Nicht-Entdeckbarkeit definiert sind“. Moderiert von Konrad Paul Liessmann, tauschten sich bei der anschließenden Diskussion in einer ersten Runde die beiden Referenten aus, bevor auf Fragen der Teilnerhmer:innen eingegangen wurde. Auch im weiteren Verlauf der Tagung folgte jeweils zwei Vorträgen stets eine Publikumsdiskussion, mit wechselnden Moderator:innen.    

Den Nachmittag moderierte Svenja Flaßpöhler. Die beiden Vorträge führten auf das weite Feld der Warenströme, der Schlaufe aus Produktion und Konsumtion, und warfen u. a. die Frage auf, wie sich in das Betriebssystem des Kapitalismus Sand streuen lässt – oder wie dieser wieder hinauszubekommen ist. Um 16.00 Uhr referierte der Philosoph, Schriftsteller und Literaturkritiker Philipp Tingler, bekannt aus dem Literarischen Quartett im ZDF, über „Luxus als Verwegenheit“. Unter anderem thematisierte er die Schönheit, ebenso Geschmacklosigkeit von Luxus und kam auch auf jenen zu sprechen, der sich dadurch auszeichnet, dass man ihn nicht sieht, sofern man nicht eingeweiht ist. In Bezugnahme auf den deutschen Theaterkritiker Alfred Kerr, dass Luxus „ein Verwegenheitsmerkmal im großen Preisgegebensein“ sei, ging Tingler auf die Ambivalenz von Luxus ein: das Waghalsige, Mutige und Schöne ebenso wie das Dumme, Vulgäre. „Eine Ambivalenz, die den Luxus für Moralisierung anfällig macht und zugleich sein Potenzial als Störung begründet“, wie er erläuterte.

Um 16.45 Uhr widmete sich Monika Dommann, Professorin am Historischen Seminar der Universität Zürich, Forscherin, Autorin und u. a. Mitglied im Schweizer Presserat, dem Thema „‚Wegen Störung außer Betrieb: Unterbrüche als Belastungsproben technischer Gesellschaften“. Illustriert an Charlie Chaplins berühmtem Film Modern Times, den laufend nötigen Wartungsarbeiten an Kopierern zur Verhinderung von Papierstau ab Ende der 1950er Jahre und auch jüngsten Betriebsstörungen wie den Corona-Lockdowns, die ins Homeoffice verbannten, dem sich im Suez-Kanal querlegenden Containerschiff oder auch dem Crowdstrike-Absturz durch ein fehlerhaftes Update im Juli dieses Jahres erörterte sie technische Störrungen als Belastungsproben moderner Gesellschaften. Die besagten Vorkommnisse der letzten Jahre hat die Logistik zur boomenden, gewinnträchtigen Branche und ihre Angestellten zur Erschöpfung getrieben, wie Dommann darlegte. Dabei brachte sie die Störung technischer Systeme auch als eine lustvolle künstlerische Phantasie und politische Utopie aufs Tapet. Beispielsweise zirkulierte unter den Gegnern des G-20-Gipfels 2017 in Hamburg ein Aufkleber mit der Parole „Die Macht ist logistisch. Blockieren wir alles.“ Abschließend meinte die Historikerin: „Wir arbeiten alle mit und gegen technische Systeme. Wir können nicht ohne sie. Und sollten doch nichts unversucht lassen, darüber nachzudenken, wie sie anders, besser organisiert werden könnten. Und uns, falls es nötig ist, ihnen auch mal ins Getriebe werfen.“ Zumindest die zeitweise Entkoppelung von den Systemen sei oft die letzte, einzige Lösung.

Den ersten Vortrag am Samstag, 21. September hielt die Politikwissenschaftlerin, Soziologin und Publizistin Ulrike Ackermann, Gründerin und Direktorin des John Stuart Mill Instituts für Freiheitsforschung, zum Titel „Nonkonformisten – Visionäre – Radikale Skeptiker. Die Gratwanderung zwischen Selbstermächtigung, Fundamentalkritik und gesellschaftlichem Fortschritt“. Nach einer Vorstellung von John Stuart Mill als liberaler Vordenker zeichnete sie das bedrohliches Szenario nach, dass der Westen und seine freiheitlichen Werte nicht nur von außen, von Russland, China oder Iran attackiert, „sondern auch von innen, aus unseren Gesellschaften heraus radikal infrage gestellt und angegriffen werden“, wie die Freiheitsforscherin unterstrich. Diesbezüglich machte sie geltend, dass die Identitätspolitiken von rechts, von links und vom identitären Islam die rigorose Kritik an der westlichen Moderne, der Aufklärung, der Vernunft, der Universalität der Menschenrechte, der repräsentativen Demokratie und dem Individualismus ebenso eine wie ihr Kollektivismus. Zugleich seien sie separatistisch, würden spalten und polarisieren. Abschließend meinte Ackermann, sie hoffe, mit ihrem Vortrag Diskussionsstoff geliefert zu haben.  

Danach, um 10.15 Uhr erörterte Robin Celikates, Professor für Sozialphilosophie und Anthropologie an der Freien Universität Berlin, die Frage „Sand im Getriebe – Wie weit darf der zivile Ungehorsam gehen?“. Sich seit vielen Jahren mit dem Zusammenhang zwischen Demokratie, sozialen Bewegungen, Solidarität und Widerstand beschäftigend, ging er in seinem Vortrag der Frage nach der Bedeutung von Ungehorsam und Protest für die Demokratie nach. Diese sei darauf angewiesen, wobei die Protestform angesichts der existierenden Demokratiedefizite auch stören müsse, wie der Philosoph erklärte. Schließlich hätte es sonst viele demokratische Fortschritte gar nicht gegeben. „Ohne Dissens und Widerspruch lässt sich auch eine adäquate Antwort auf die Kreisen unserer Zeit heute kaum vorstellen. Dass gilt besonders in jenen grundlegenden Fragen, die auch mächtige ökonomische und politische Interessen tangieren, wie etwa die Klimakrise“, so Celikates. Die auf die zwei Vorträge folgende Publikumsdiskussion war wie zu erwarten durchaus kontrovers.

Am Nachmittag um 16.00 Uhr referierte Lambert Wiesing, Professor für Bildtheorie und Phänomenologie am Institut für Philosophie der Universität Jena, zum Titel „Philosophische Betriebsstörung: Skepsis, Dadaismus und Postmoderne“. Zu den drei Schlagworten stellte er die entsprechenden Strömungen im Laufe der abendländischen Philosophiegeschichte, sprich die Ansichten von deren Vertretern vor, die er als „wahre Freunde des Nichtwissens“ bezeichnete und sehr selten seien. „Aus meiner Sicht ist eine Beschäftigung mit den wirklichen, den radikalen Freunden des Nichtwissens für ein Verständnis einer eigenwilligen Situation in unserer gegenwärtigen Gesellschaft hilfreich“, so Wiesing. Denn wir hätten es zunehmend mit Personen zu tun, die skeptische Überlegungen für sehr dogmatische Zwecke instrumentalisieren. „Skepsis leidet heute unter massiven Missbrauch. Die alten Freunde des Nichtwissens haben sehr zweifelhafte neue Freunde bekommen.“

Um 16.45 Uhr gab die deutsche Autorin und Übersetzerin Esther Kinsky ihre Reflexionen unter dem Titel „Das aufgestörte Wort. Poetik der Unruhe“ zum Besten. Ihre Art der Beschäftigung mit der Sprache führe zur täglichen Begegnung und auch Konfrontationen mit deren Störpotenzial, die kein Hindernis sei, sondern vielmehr zum Nachdenken, Umdenken, Neudenken zwinge. Von fundamentaler Bedeutung sei für sie die Entdeckung des Begriff des gestörten Geländes gewesen, als das sie auch die Sprache sieht, so Kinsky. Viele Wörter des täglichen Gebrauchs würden bei näherem Hinschauen diese kleinen von Bedeutungswandeln und historischen Verschiebungen gestörten Gelände offenbaren. „Immer bleibt die Sprache der Boden, auf dem unsere Auseinandersetzung mit der Welt stattfindet“, so die Übersetzerin. Eines aber bleibe stets ein Stolperstein bei diesen Fragen, nämlich die Tatsache, dass man der Sprache nur mittels Sprache beikommen könne. „Wie merkwürdig ist es, dass dieses Wunderwerk Sprache – und zwar jede einzelne der völlig unterschiedlich organisierten Sprachen der Menschen – einerseits als differenziertes Verständigungssystem eine Höchstleistung kollektiver Kreativität ist und sich doch andererseits immer wieder als unerschöpflicher Fundus der Destruktivität erweisen kann.“ Ein zentraler Anknüpfungspunkt in ihrem Vortrag war der Mythos des Turmbaus zu Babel bzw. die babylonische Sprachverwirrung. „Was wäre die Dichtung ohne die Uneindeutigkeit der Worte? Wäre eine Rückkehr zur Eindeutigkeit wirklich ein Gewinn?“

Am Sonntag, den 22. September, um 10.00 Uhr hielt zunächst Elisabeth Lechner, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin am Institut für Anglistik an der Universität Graz, unter dem Titel „Störkörper“ einen Vortrag als Einladung zum Perspektivenwechsel. Mit drei Beispielen illustrierte sie Momente der Friktion, um zu fragen, wie Störung produktiv gemacht werden kann. So stellte sie die Performance „Odyssee ins Gebäude. Besuch am Schillerplatz“ des mobilitätseingeschränkten Kunststudenten Philipp Muerling vor. „Die inszenierte Störung wird zum Versuch darzustellen, was es bedeutet, tagein tagaus als Störkörper in einem strukturell ableistischen System wahrgenommen zu werden“, erläuterte Lechner. Für Muerling wurde die Aktion zur Erfahrung: Wer ein Problem benennt, wird zum Problem. Ein simples technisches Gebrechen – ein glitch – wurde für die Informatik-Studentin Joy Buolamwini wiederum zu einen Moment der Desorientierung, der sie zur politischen Vorkämpferin in Sachen Datengerechtigkeit und zur Gründerin der Algorithmic Justice League werden ließ. Aufgrund ihrer Hautfarbe hatte eine Gesichtserkennungssoftware ihre Gesicht nicht erkannt: „No face detected.“ Als weiteres Beispiel thematisierte Lechner die mediale Darstellung von dicken Menschen als gesichts- und persönlichkeitslose Fettmasse ohne Kopf, als „headless fatties.“ Dieser medial beliebte Topos basiert auf öffentlicher Beschämung, Objektifizierung und Dehumanisierung. Körperfett stört und gilt gleichsam als Grenzüberschreitung, was zur gesellschaftlichen Forderung des richtigen Selbst-Managements durch Gewichtsabnahme führt. „Nicht unsere Körper sind falsch, sondern die Anforderungen, die an sie gestellt werden und die Profite, die mit den daraus resultierenden Unsicherheiten gemacht werden“, stellte Lechner klar und sprach sich für das Zerschlagen von einschränkenden Normgittern aus       

Abgeschlossen wurde die Vortragsreihe mit dem Beitrag von Peter Schneider, Privatdozent für Klinische Psychologie an der Universität Zürich und Kolumnist, zur Frage „Störfall Seele – gestört, normal oder neurodivers?“. In diesem diskutierte er die Kategorisierung von Seelenstörungen, wie die Ablösung des Begriffs der psychischen Krankheit durch den der psychischen Störung. „Was soll daran besser sein, wenn ich nicht mehr psychisch krank, sondern gestört bin?“ Schließlich kam Müller zur „derzeit wohl am heißesten diskutierten psychischen condition, der Geschlechtsinkongruenz oder gender dysphoria“. Durch das Aufgreifen des damals neuen sexuellen Paradigmas der Perversion und das Konzept der grundsätzlichen Bisexualität habe bereits Freud in seiner Frühschrift „so ziemlich alles aufgemischt, was heutige Trans-Kritiker:innen mit dem etwas stupiden und ausgeleierten Mantra ‚Aber es gibt nur zwei Geschlechter‘ wieder zur natürlichen Ordnung rufen wollen“, so der Psychoanalytiker. Hinsichtlich identitätsbildender Kategorien wird die Frage, was gewählt werden kann und was als absolut gegeben anzuerkennen ist, in sexueller Hinsicht neu verhandelt. „In Zusammenhang der Auflösung und Transformation sozialer und psychischer Kategorien leben wir in interessanten Zeiten“, betonte Müller.

Feierliche Verleihung des Tractatus 2024 an Philipp Hübl und festliches Konzert

Als ein alljährlicher Höhepunkt des Philosophicum Lech fand am Freitag, den 20. September die feierliche Verleihung des Tractatus 2024 statt. Den renommierten und mit 25.000 hoch dotierten Essay-Preis des Philosophicum Lech erhielt der deutsche Philosoph und Publizist Philipp Hübl, dessen Buch „Moralspektakel. Warum die richtige Haltung zum Statussymbol wurde und warum das die Welt nicht besser macht““ prämiert wurde. Der Festakt mit der exzellenten Laudatio von Jury-Mitglied Ijoma Mangold, versierter Literaturkritiker sowie gefeierter Autor von Sachbüchern, und der Dankesrede des Tractatus-Preisträgers steht als Video-Stream zur Verfügung: https://www.philosophicum.com/tractatus/video-preisverleihung-2024

Ein weiteres Glanzlicht des Rahmenprogramms war das Konzert von Zsófia Boros, zu dem in Kooperation mit der Hilti Foundation am Samstag, den 20. September um 21.00 Uhr in die Neuen Kirche Lech geladen wurde. Die ungarische Gitarristin, die von Klassik bis Jazz für ihr einfühlsames Spiel und makellose Technik bekannt ist und mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet wurde, begeisterte das Auditorium.

Termin und Thema des 28. Philosophicum Lech

Bevor das Symposium beim traditionellen „Arlberg Brunch“ seinen kulinarischen Ausklang fand, wurde das von den Teilnehmer:innen stets mit Spannung erwartete Thema im kommenden Jahr verkündet: „Abenteuer. Lob der Unverfügbarkeit“ lautet der vielversprechende Titel des 28. Philosophicum Lech, das vom 23. bis 28. September 2025 wieder für bereichernde Erkenntnisse, gehaltvolle Diskussionen und eine ebenso inspirierende wie angenehme Zeit in Lech am Arlberg garantieren wird.

Es wird empfohlen, sich auf der Website über den Start der Online-Anmeldung (voraussichtlich im April 2025) am Laufenden zu halten, um einen der begehrten Teilnahmeplätze zu erhalten.

Weitere Informationen auf www.philosophicum.com

Preisverleihung des Tractatus 2024 im Online-Videostream

Preisträger des Tractatus 2024 ist der deutsche Philosoph und Publizist Philipp Hübl. Exemplarisch ausgezeichnet wird sein Buch „Moralspektakel. Wie die richtige Haltung zum Statussymbol wurde und warum das die Welt nicht besser macht“.

 

 

Sehen Sie hier den ganzen Abend!